Zur Problematik einer Definition von Jugendsprache

Linguistik online. 8, 1/01

Eine Hausarbeit, die sich mit "Jugendsprache" beschäftigt, muss, bevor sie sich mit Forschungsaspekten und eigenen Untersuchungen beschäftigt, erst einmal klären, was "Jugendsprache" eigentlich ist. Eigentlich ist die Erklärung ganz einfach: "Jugendsprache" ist die Sprache der Jugend. Doch diese Definition nährt den Mythos, es gäbe eine Sprache, deren Besitzer ausschließlich die Jugend wäre und die nur von Jugendlichen gesprochen würde. Sprachwissenschaftler sehen "Jugendsprache" heute als ein komplexes sprachliches Register. Jugendliche sprechen nicht immer die Art von Sprache, die Erwachsene als "Jugendsprache" identifizieren. Eine weitere Frage wirft diese Definition auf: Wer ist ein Jugendlicher? Die Psychologie grenzt das Jugendalter als Zeitspanne zwischen dem Beginn der Pubertät, die zwischen 11 und 14 Jahren einsetzt, und der Postadoleszenz ein. Des Weiteren betont die Psychologie, dass die Jugendlichen häufig in zwei "Wertwelten" leben, die zum einen durch die Eltern und zum anderen durch die Altersgenossen geprägt werden. Diese zwei Wertwelten könnten großen Einfluss auf die Sprache der Jugendlichen haben. Je nachdem, mit wem die Jugendlichen kommunizieren, wechseln sie von einem Sprachsystem in ein anderes.

So eindeutig die psychologische Definition von "Jugend" auch zu sein scheint, sie beachtet nicht, dass "Jugend" in unserer heutigen Gesellschaft einen ausgesprochen hohen Stellenwert innehat. Viele Menschen, die nicht mehr im entwicklungspsychologischen Sinne als Jugendliche gelten, fühlen sich jung und jugendlich, kleiden sich entsprechend und reden wie "Jugendliche". Meiner Meinung nach ist die Sprache dieser Gruppe, die häufig als "Berufsjugendliche" bezeichnet werden, keine Jugendsprache. Vielleicht haben sie ihr Wissen über jugendliche Sprache aus einem der zahlreichen "Lexika der Jugendsprache"?! Die große Bedeutung der Jugend in unserer Gesellschaft und das Streben nach "ewiger Jugend" haben, so denke ich, den Mythos "Jugendsprache" geprägt. Die Menschen glauben, wenn sie die Sprache der Jugend beherrschten, dann seien auch sie ein Teil der Jugend. Was wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Autoren unter "Jugendsprache" verstehen, ist häufig nur ein Teil des sprachlichen Registers der Jugendlichen. Viele Autoren reduzieren "Jugendsprache" auf bestimmte Ausdrücke und Formeln. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum "Jugendsprache" häufig auf bestimmte Ausdrücke reduziert wird. Meiner Ansicht nach gibt es hierfür zwei Gründe. Zum einen ist dieser Teil der Jugendsprache am auffälligsten. Benutzt ein Jugendlicher die Wörter "geil" oder "abgefahren", so heben sie sich von denen des erwachsenen Beobachters deutlich ab. Verwendet der Jugendliche die Wörter "schön" und "spannend", so wird sie der Beobachter kaum wahrnehmen, da er sie genauso verwendet. Der erste Grund für die Reduzierung der Jugendsprache auf bestimmte prägnante Ausdrücke ist demnach auf die selektive Wahrnehmung zurückzuführen. Der zweite Grund liegt meiner Ansicht nach darin, dass für viele Autoren "Jugendsprache" nur interessant ist, wenn sie schockiert. Die Sprache der Jugendlichen, die nicht die Ausdrücke verwenden, die die Beobachter als jugendsprachlich ansehen, wird einfach nicht beachtet. Diese absichtliche Selektierung der Sprache von Jugendlichen hat zur Folge, dass ein verzerrtes Bild der Sprache der Jugendlichen entsteht. Gehen manche Autoren von der Annahme aus, dass es eine Sprache gibt, deren Besitzer die Jugendlichen sind, so halten sie die Fiktion aufrecht, dass man diese Sprache lernen kann. Durch das Erlernen der Jugendsprache wird dann der Besitzer selbst zu einem Teil der Jugend. Diese Fiktion verhilft den "Lexika der Jugendsprache" zu ihrem großen Erfolg. Auch Menschen, die das Jugendalter längst überschritten haben, sind in der Lage, durch ihre Kleidung und ihre Sprache, die sie mit Hilfe der Jugendsprach-Lexika erlernt haben, zu signalisieren: Ich bin jung! Das Problem ist nur: es gibt keine Sprache, die nur der Jugend gehört. Jugendliche merken sofort, dass ein Erwachsener, der meint, sich wie ein Teenie auszudrücken, nicht zu ihnen gehört. Auf die Jugendlichen wirken diese Erwachsenen lächerlich, weil das Gesamtbild nicht stimmt. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass die "jugendlich sprechenden" Erwachsenen nicht die Jugendlichen beeindrucken wollen, sondern eher andere Erwachsene.

Abschließend ist zu resümieren, dass nach Henne Jugendsprache eine spezifische Sprech- und Schreibweise kennzeichnet, mit der Jugendliche ihre Sprachprofilierung und somit auch ihre Identität finden können. Jugendsprache ist Hennes Meinung nach keine homogene Varietät des Deutschen, sondern ein spielerisches Sekundärgefüge mit bestimmten Merkmalen. Zu diesen Merkmalen gehören Grüße, Anreden, Partnerbezeichungen, griffige Namen, Sprüche, flotte Redensarten, stereotype Floskeln, metaphorische und meist hyperbolische Sprechweisen, Repliken mit Entzückungs- und Verdammungswörtern, Sprachspielereien, Lautverkürzungen, Lautschwächungen sowie graphostilistische Mittel, Lautwörterkombinationen, Wortbildungen und Worterweiterungen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es keine einheitliche Definition von Jugendsprache gibt. (Yvonne Ingler)

Aufgaben:

1. Machen Sie sich mit den Thesen aus dem Beitrag „Jugendsprache“ bekannt!

2. Beachten Sie die Besonderheiten der Sprache eines wissenschaftlichen Textes!

Jugendsprache

Ingler, Yvonne (1998)

ESEL - Essener Studienenzyklopädie Linguistik. Linguistik online 8, 1/01

1. Zu Beginn der vorliegenden Hausarbeit werden einige wichtige Definitionsversuche und verschiedene neuere Forschungsansätze zur Untersuchung von Jugendsprache vorgestellt.

2. Dabei wird zuerst eine von Schlobinski, Kohl und Ludewigt durchgeführte wissenschaftliche Untersuchung zur Jugendsprache kritisch reflektiert.

3. Darauf folgt eine Beurteilung zweier populärwissenschaftlicher Bücher, die sich ebenfalls mit Jugendsprache beschäftigen.

4. Der zweite Teil der Hausarbeit berichtet über eine eigene Untersuchung zur Jugendsprache.

5. Die Verfasserin hat die geschriebene Sprache von Jugendlichen in Schüler- und Abizeitungen analysiert und bestimmte Merkmale herausgearbeitet.

6. Eine Hausarbeit, die sich mit "Jugendsprache" beschäftigt, muss, bevor sie sich mit Forschungsaspekten und eigenen Untersuchungen beschäftigt, erst einmal klären, was "Jugendsprache" eigentlich ist.

7. Die Psychologie grenzt das Jugendalter als Zeitspanne zwischen dem Beginn der Pubertät, die zwischen 11 und 14 Jahren einsetzt, und der Postadoleszenz ein.

8. Des Weiteren betont die Psychologie, dass die Jugendlichen häufig in zwei "Wertwelten" leben, die zum einen durch die Eltern und zum anderen durch die Altersgenossen geprägt werden.

9. So eindeutig die psychologische Definition von "Jugend" auch zu sein scheint, sie beachtet nicht, dass "Jugend" in unserer heutigen Gesellschaft einen ausgesprochen hohen Stellenwert innehat.

10. Viele Autoren reduzieren "Jugendsprache" auf bestimmte Ausdrücke und Formeln.

11. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum "Jugendsprache" häufig auf bestimmte Ausdrücke reduziert wird.

12. Meiner Ansicht nach gibt es hierfür zwei Gründe.

13. Zum einen ist dieser Teil der Jugendsprache am auffälligsten.

14. Der zweite Grund liegt meiner Ansicht nach darin, dass für viele Autoren "Jugendsprache" nur interessant ist, wenn sie schockiert.

15. Diese absichtliche Selektierung der Sprache von Jugendlichen hat zur Folge, dass ein verzerrtes Bild der Sprache der Jugendlichen entsteht.

16. Gehen manche Autoren von der Annahme aus, dass es eine Sprache gibt, deren Besitzer die Jugendlichen sind, so halten sie die Fiktion aufrecht, dass man diese Sprache lernen kann.

17. Abschließend ist zu resümieren, dass nach Henne Jugendsprache eine spezifische Sprech- und Schreibweise kennzeichnet, mit der Jugendliche ihre Sprachprofilierung und somit auch ihre Identität finden können.

18. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es keine einheitliche Definition von Jugendsprache gibt.

19. Ich möchte dieses Kapitel mit einer von mir aufgestellten These einleiten, die dann im Folgenden bewiesen werden soll.

20. Zur aktuellen linguistisch-wissenschaftlichen Richtung zähle ich das bereits zitierte Buch von Schlobinski, Kohl und Ludewigt "Jugendsprache", Helmut Hennes Buch "Jugend und ihre Sprache" und die Aufsätze in den "Osnabrücker Beiträgen zur Sprachtheorie" zum Thema Jugendsprache.

21. Die medienorientiert-populärwissenschaftliche Richtung ist mit einer Vielzahl von Beiträgen vertreten.

22. Einige Aussagen zum Thema Jugendsprache werden kritisch beleuchtet.

23. Die Gründe liegen m. E. in zwei Aspekten.

24. Zum einen hat Jugend heute eine besonders wichtige Bedeutung.

25. In diesem Zusammenhang kommt der zweite Aspekt zum Tragen: die Menschen wollen ihre Jugend erhalten.

26. Durch die zahlreichen Publikationen zur Jugendsprache entsteht der Eindruck, als gäbe es eine bestimmte Sprache, die alle Jugendlichen sprächen.

27. Ich gebe zunächst einen kurzen Überblick über den Aufbau des Buches. Es gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil beschäftigt sich mit der theoretischen Dimension von Jugendsprache und gibt einen kurzen Abriss verschiedener Aspekte der bisherigen Jugendsprachforschung für den deutschsprachigen Raum.

28. Der zweite Teil enthält eine eigene empirische Analyse der Autoren Peter Schlobinski, Gaby Kohl und Irmgard Ludewigt.

29. Als Methode zur Untersuchung haben die Forscher die Form der teilnehmenden Beobachtung sowie ein ethnomethodologisches Vorgehen gewählt.

30. Ziel war es, möglichst authentische Sprechaufnahmen zu bekommen.

31. Ich komme nun zur Kritik an der von den Forschern angewandten Methodik.

32. Meiner Einsicht nach ist die gewählte Methode ausgesprochen gut geeignet, um Jugendsprache zu untersuchen.

33. Eine Fragebogenuntersuchung kann nur mangelhafte Kenntnisse darüber liefern, welche Sprache sie benutzen.

34. Der Argumentation kann man zwei Einwände entgegenstellen:

35. Ich denke, man kann man in dieser Aussage eine deutliche Wertung erkennen.

36. Zusammenfassend möchte ich jedoch feststellen, dass die Arbeit von Schlobinski, Kohl und Ludewigt ein ausgesprochen gut verständliches Buch mit wissenschaftlichem Anspruch ist.

37. Besonders hervorzuheben sind Kapitel I mit der Reflexion über den Aufbau eines Mythos von der Jugendsprache sowie die intensive Beobachtung und genaue Analyse der Sprache der verschiedenen Jugendlichen.

38. Als ausgesprochen interessant und in Bezug auf die Verständlichkeit des komplexen Gegenstandes einleuchtend ist mir das Kapitel "Sprechstilanalyse" aufgefallen.

39. Mit Hilfe dieses theoretischen Unterbaus gewinnt das Buch "Jugendsprache" an wissenschaftlichem Niveau und allgemeinem Interesse.

40. Abschließend möchte ich festhalten, dass mir die Recherche und das Verfassen dieser Hausarbeit ausgesprochen viel Spaß gemacht haben und ich jetzt ein wesentlich differenzierteres Bild über Jugendsprache gewonnen habe.

Text 7. Das Problem der Wortarten

(Karl-Dieter Bünting)

Wörter werden traditionell nach Wortarten oder Wortk1assen eingeteilt. Die Klassifikation wird gewöhnlich mit unterschiedlichen Argumenten begründet.

1. Wörter werden nach ihrer morphologischen Struktur klassifiziert; man sagt dann z. B. „ein konjugierbares Wort ist ein Verb“.

2. Wörter werden nach distributionellen Kriterien definiert; man sagt dann z. B. „Wörter, die an Stelle von Nomen stehen können, sind Pronomen“.

3. Wörter werden nach ihrer Funktion in Sätzen oder Satzteilen, also nach syntaktischen Gesichtspunkten klassifiziert; man sagt dann z. B. „Wörter, die Verben näher bestimmen, sind Adverbien“.

4. Wörter werden nach den Umweltreferenten, auf die sie typisch verweisen, klassifiziert, man sagt dann z. B. „Wörter, die den Dingen Namen geben, sind Nomen bzw. Substantive“.

Keines dieser vier Klassifikationsprinzipien kann befriedigen. Die im Hinblick auf die Zerlegung der Wörter in Morpheme distributionelle Definition nach morphologischen Kriterien setzt voraus, dass die Morpheme und ihre semantischen Inhalte und syntaktischen Funktionen unabhängig von Wörtern definiert sind; diese Voraussetzung ist bestenfalls in einer Darstellung der morphologischen Struktur von Wörtern zu erfüllen aber nicht bei der Analyse selbst, bei der man nicht nur mit Morphemen als Teilen von Äußerungen konfrontiert ist, sondern eben auch mit Wörtern. Das gleiche gilt für die Definition von Wortklassen wie Pronomen, bei der auf andere Wortklassen verwiesen wird. Die Definition nach syntaktischen Kriterien setzt eine vollständige syntaktische Analyse voraus. Für die Syntax wird das auch in der generativen Grammatik angestrebt, wie weiter unten erläutert wird, aber dort erscheinen einerseits als Endterme einer syntaktischen Analyse keine Wörter oder Morpheme sondern die sog. „Formative“ als abstrakte syntaktische Einheiten, und andererseits werden bei der Analyse selbst Wortartkategorien wie Nomen, Nominalphrase, Verb usw. verwendet und somit als Grundbegriffe vorausgesetzt. Wenn diese Verwendung traditioneller grammatischer Kategorien in der generativen Grammatik auch theoretisch abgesichert ist, so ist damit für eine Definition dieser Kategorien außerhalb der generativen Modelle nichts gewonnen. Die semantische Definition schließlich scheint zwar für die jeweils angegebenen Wörter plausibel, aber für eine große Zahl von Wörtern einer Klasse ist sie schlechterdings unsinnig, wie man am Beispiel der „Dingwörter“ sehen mag: ein Ball und ein Haus sind Dinge, aber Dummheit ist kein Ding, auch kein „abstraktes“. Außerdem sind diese semantischen Definitionen eigentlich an den in den Wörtern enthaltenen Lexemen orientiert; die Lexeme sind aber gar nicht so eindeutig auf bestimmte Wortarten festgelegt, wie es scheinen mag. Eine Untersuchung von ca. 2750 im Wörterbuch von Mackensen enthaltenen Lexemen ergab, dass 47,4% der Substantive, 45,2% der Verben und 43,8% der Adjektive ohne Wortbildungsmorphem und ohne Änderung des Sprachkörpers abgesehen vom Hinzufügen bzw. Streichen der Infinitivendung -en bei den Verben mindestens einer der beiden anderen Wortklassen angehörte, so wie sie bei Mackensen gekennzeichnet waren.

Im Hinblick auf die Wortarten hat der Strukturalismus eigentlich nur Kritik an den bisher vorgelegten Definitionen zu bieten, soweit man sich überhaupt mit Wörtern befasst hat. Das erklärt sich daraus, dass kein überzeugender Wortbegriff definiert werden kann und das hat u. a. wiederum darin seinen Grund, dass der Strukturalismus in der Erforschung der Semantik wenig geleistet hat, weil die Semantik als „mentalistischer“ Bereich lange Zeit aus strukturalistischer Forschung ausgeschlossen wurde.

Man muss demnach die traditionellen Wortartbegriffe verwenden. Traditionellerweise teilt man deutsche Wörter in 9 oder 10 Wortklassen ein: Nomen (bzw. Substantive), Verben, Adjektive, Adverbien, Pronomen (bzw. Artikel und Pronomen), Numeralien, Konjunktionen, Präpositionen und Interjektionen. Definiert werden die Wortarten nach den oben kritisierten Prinzipien. Per Definitionem enthalten alle Wörter mindestens ein Kernmorphem, wenn man den Begriff Kern so erweitert, dass die Verbalstämme darunter fallen; wie oben anhand derjenigen Kerne, die zugleich Lexeme sind, mit Zahlen belegt, sind die Kerne jedoch nicht unbedingt auf eine Wortart festgelegt; vom Sprachkörper her gesehen sind sie zur Hälfte gewissermaßen Wortarthomonyme. Der Kern REIF z. B. erscheint als – semantisch mehrdeutiges – Nomen (Armreif und gefrorener Tau), als Verbum (reifen) und als Adjektiv (reife Birne). Die Wörter einiger Wortarten – die Substantive (Nomen), Verben, Adjektive, Pronomen, Artikel und Numeralien – sind in spezifischer Weise flektierbar, d h. ihre Wortformen bestehen aus einem Lexem und meistens einem Flexionsmorphem, wobei der Kern je nach Flexionsstatus durch verschiedene Allomorphe repräsentiert werden kann. Die Kerne einiger Wortarten sind Lexeme; das trifft bei Nomen, Verben, Adjektiven und Numeralien in jedem Fall, bei Adverbien z. T. zu (schnell, schön). Die Kerne anderer Wortarten sind deiktische, z. T. anaphorische Partikel; das trifft bei Pronomen, Präpositionen und Konjunktionen und wohl auch Interjektionen in jedem Fall, bei Adverbien z. T. zu (heute, hier).

Text 8. Tempus, Modus, Aktionsart (Aspekt)

(Karl-Dieter Bünting)

Tempus ist das lateinische Wort für Zeit. Die grammatische Kategorie des Tempus gibt in grammatisch-systematischer Weise in Äußerungen eine Zeitreferenz, die entweder durch Zeitadverbien (gestern, später), durch entsprechende Syntagmen (am vergangenen Tag, nächstes Jahr) oder in der Verbalkonjugation oder durch beides realisiert wird; meistens denkt man beim Terminus,Tempus‘ an die Konjugation. Traditionellerweise setzt man drei generelle Zeitabschnitte auf einer Zeitachse an: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft; dabei werden Vergangenheit und Zukunft noch einmal gegliedert in Vorvergangenheit und in eine Zukunft, die als abgeschlossen vorausgesehen wird. Diese saubere Einteilung in sechs Tempusstufen ist mehr an der lateinischen Grammatik mit ihren Flexionsformen und einem davon hergeleiteten deutschen Tempussystem orientiert als an den Sprachgegebenheiten des Deutschen und der tatsächlichen Zeitreferenz. Die Zeit wird in anderen Sprachen auf andere Weise kategorisiert als in den drei Kontrasten Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Man findet Dichotomien Gegenwart und Nicht-Gegenwart (ohne Angabe einer „Richtung“), Vergangenheit und Nicht-Vergangenheit (inklusive Zukunft), oder aber Gegenwart, zeitlich nahe zur Gegenwart und zeitlich weit entfernt von der Gegenwart usw. Die Aufzählung mag als Demonstration genügen, dass die scheinbar so natürliche Unterscheidung Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft nicht die einzig mögliche Aufteilung der Zeitachse darstellt. Wie sieht es nun im Deutschen aus? Die 6 Tempora – jetzt mit lateinischen Namen – Plusquamperfekt, Perfekt, Präteritum (Imperfekt), Präsens, Futur I, Futur II sind im Flexionssystem festzustellen; Präsens und Präteritum sind als reine Verbalformen vorhanden, die anderen werden durch Syntagmen ausgedrückt, die aus Hilfsverb mit Tempusangabe plus Infinitiv, welcher Zeitlosigkeit angibt, oder Partizip Perfekt, welches abgelaufene Zeit angibt, bestehen. Eine der Tempusformen sei exemplarisch genauer betrachtet: die Präsensform. Sie verweist keineswegs immer auf die Gegenwart der Redesituation; Präsensformen werden benutzt, wenn zeitlose Aussagen gemacht werden: Alle Menschen reden. Außerdem werden Präsensformen benutzt, wenn auf Zukünftiges verwiesen wird, wobei die Zeitreferenz durch Adverbien oder Adverbialsyntagmen ausgedrückt wird: Nächste Woche besuche ich Tante Elise. Morgen demonstrieren die Studenten. Auch Vergangenes kann durch adverbielle Bestimmung in Verbindung mit der Präsensform des Verbums ausgedrückt werden: Da fahre ich gestern ahnungslos in die Stadt und treffe doch ausgerechnet Tante Elise in der Straßenbahn. Traditionelle Grammatiken versuchen, ihre Konzeption zu retten, und sprechen in solchen Fällen vom „historischen Präsens“ oder Ähnlichem. Den Beispielen zufolge scheint es eher so zu sein, dass die sogenannte Präsensform in der Zeitreferenz unmarkiert ist. Erst die Redesituation oder der Kontext geben die zeitliche Einordnung. Dagegen sind die Präteritumformen eindeutig markiert; sie verweisen immer auf Vergangenes. Beim Perfekt und seiner Differenzierung, dem Plusquamperfekt, kommt zur Aussage über den vorgegenwärtigen Zeitpunkt des Geschehens noch eine Aussage über die Abgeschlossenheit hinzu, die diese für alle Verben verwendbare Tempusangabe in die Nähe einer Kategorie rückt, die gewöhnlich Aktionsart genannt wird. Nach der Aktionsart, auch Aspekt oder auf Deutsch Verlaufsform genannt, wird unterschieden, ob eine im Verb angesprochene Handlung bzw. ein Geschehen beginnt (ingressive, inchoative, auch inkohative A.), andauert (durative A.) oder abgeschlossen ist (perfektive A.). Im Deutschen werden Aktionsarten eigentlich nicht – höchstens in hyperkorrekten, am Lateinischen orientierten Schulgrammatiken – durch Flexionsformen angegeben, wie das z. B. im Englischen der Fall ist. Dort steht der durativen Reihe I am/was reading the book; I will/would be reading the book die perfektive Reihe I have/had read the book; I will/would have read the book gegenüber. Statt dessen werden im Deutschen Aktionsmerkmale durch Wortbildungspräfixe realisiert; man vergleiche duratives blühen, inchoatives erblühen und perfektives verblühen. Außerdem wird inchoativer Aspekt durch Syntagmen wie z. B. anfangen zu …, beginnen zu … ausgedrückt. Durativer Aspekt wird häufig, besonders in mündlicher Rede (Umgangssprache) durch Syntagmen wie Heiner ist am Spielen ausgedrückt. Dass gerade diese letzte Wendung so häufig in mündlicher Rede erscheint, deutet darauf hin, dass die Aktionsarten als Kategorien des Sprachsystems auch im Deutschen voll funktionieren, wenn sie auch in der Morphologie nicht in dem Maße eindeutig realisiert sind wie in anderen Sprachen.

Nun zum Modus. Unter dem Begriff Modus versteht man zunächst allgemein eine Angabe über den Wirklichkeitsgehalt des dargestellten Sachverhalts. Nach der Morphologie und dem Flexionssystem des Deutschen zu urteilen, gibt es als modale Kategorien nur die einfachen Aussagen von Tatsachen im Indikativ, die Aussage über die Möglichkeit des Ausgesagten im Konjunktiv und als drittes mit direktem Bezug auf die Kommunikationssituation und mit Appellfunktion die Aufforderung im Imperativ. Es gibt jedoch eine ganze Reihe weiterer Modi, die im Deutschen nicht in der Konjugation sondern durch syntaktische Konstruktionen mit den Modalverben (können, dürfen, müssen, mögen, möchten, sollen, wollen) realisiert werden, und die in anderen Sprachen z. T. im Flexionssystem erscheinen, so wie ja auch der deutsche Konjunktiv z. B. im Englischen „umschrieben“ werden muss durch ein Syntagma mit einem Modalverb. Sicherlich ist auch das Fragen ein Modus, wenn er auch im Deutschen durch Fragepronomen bzw. Wortstellung und, in mündlicher Rede, durch Intonation (Heben der Stimme am Ende der Äußerung) verkörpert wird.

Die Diskussion der grammatischen Kategorien, so wenig ausführlich sie war, hat weit über das hinausgeführt, was man gewöhnlich unter Flexion und Flexionsmorphologie versteht. Aber eine Einschränkung auf die üblichen Flexionsparadigmata, welche Wortmorphologien in den Mittelpunkt stellen und nur beim Tempus „Umschreibungen mit Hilfsverben“ als Syntagmen einbeziehen, schien von einem generellen Standpunkt aus nicht statthaft. Bereits bei der Flexion zeigt sich deutlich, wie vielfältig die grammatischen und deiktischen Ordnungs-und Orientierungskoordinaten des Sprachsystems in den Sprachelementen und deren Kombinationen verkörpert sind, und welch scheinbar zufällige Größen die Wörter sind.

Text 9. Wortbildung: die morphologische Struktur der Wörter

(Karl-Dieter Bünting)

Man kann die gerade in der deutschen Sprache so reichlich vertretene Wortbildung eigentlich kaum unter rein synchronischen Gesichtspunkten adäquat betrachten. Wenn man eine diachronische Betrachtung ausklammert, weil man zunächst heute produkrive Wortbildungsvorgänge und -muster erfassen will, dann muss man sich darüber im Klaren sein, dass gerade bei der Wortbildung, wo das Entstehen der theoretisch so schwer zu fassenden, aber empirisch gegebenen Wörter zu analysieren ist, die historische Dimension und der Vergleich mit früheren Sprachstufen Vieles erklären kann, was bei synchronischer Betrachtung als Ausnahme, als „geprägtes Wort“ usw. registriert werden muss. Eine synchronische Betrachtung stellt fest, ob bestimmte Bildungsmuster noch wirksam sind, ob also bestimmte Morphemkombinationen ad hoc gebildet werden können (offene Klassen), wie z. B. die Kombination „Lexem + -ung“ oder ob Muster nicht mehr wirksam sind und Morphemkombinationen nicht mehr ad hoc gebildet werden könnten, wie z. B. Wörter auf -nis (geschlossene Klassen).

Insgesamt gesehen hat die synchronisch ausgerichtete strukturalistische Linguistik nicht viel zur Beschreibung der Wortbildung beigetragen, zumal nicht zur Beschreibung der Wortbildung im Deutschen. Im Folgenden werden deshalb wiederum nur Vorschläge skizziert, wie man die Wortbildung auf der Basis morphologischer Analysen darstellen könnte. Vorschläge zur Behandlung im Rahmen der generativen Grammatik werden später behandelt.

Die folgende Darstellung wird sich auf die drei sog. Hauptwortarten (Nomen, Verben, Adjektive) beschränken, weil diese den weitaus größten Teil deutscher Wörter ausmachen, und weil die deutsche Wortbildung hier nicht vollständig, sondern nur exemplarisch behandelt werden kann.

Die Wörter lassen sich aufgrund ihrer morphematischen Struktur nach den Morphemtypen Lexem (zugleich gewöhnlich Kern), Flexionsmorphem (häufig als innere Flexion durch eine Alloform des Lexems realisiert) und Wortbildungsmorphem unter rein synchronischen Gesichtspunkten in drei oder vier Klassen einteilen.

1. Wörter, die aus einem Lexem und möglicherweise einem Flexionsmorphem bestehen; sie werden traditionell einfache Wörter genannt; Beispiel: Glück.

2. Wörter, die aus einem Lexem, einem oder mehreren Wortbildungsmorphemen und möglicherweise einem Flexionsmorphem bestehen; sie werden traditionell abgeleitete Wörter genannt; Beispiele: glücklich, Unglück, verunglücken.

3. Wörter, die aus mindestens zwei Lexemen, möglicherweise einem oder mehreren Wortbildungsmorphemen und möglicherweise einem Flexionsmorphem bestehen; sie werden traditionell zusammengesetzte Wörter genannt; Beispiele: Glückslos, Losglück, Unglücksrabe.

4. Außerdem gibt es eine Anzahl von Wörtern, gewöhnlich Verben, die aus einem Lexem, einem deiktischen Element und möglicherweise einem oder mehreren Wortbildungsmorphemen und Flexionsmorphemen bestehen, z. B. beglücken, verunglücken, abfahren, vorführen, fortschreiten, Fortschritt. Diese Wörter werden teilweise als Ableitungen und teilweise als Zusammensetzungen klassifiziert. Die deiktischen Elemente, gewöhnlich Präpositionen, werden auch trennbare Präfixe genannt, weil sie beim Flektieren z. T. abgetrennt werden im Gegensatz zu den nicht trennbaren Präfixen, man vergleiche abfahrenfährt ab und verfahrenverfährt. In einigen Wortbildungslehren werden solche Präfixbildungen sowohl bei trennbaren als auch bei untrennbaren Präfixen gesondert behandelt; der Begriff Ableitung bleibt dort Suffixbildungen vorbehalten.

Text 10. Stellung des finiten Verbs im Deutschen: verbale Satzklammer und Satzarten

(Karl-Dieter Bünting)

Im Deutschen hat die Stellung des Verbs besondere Bedeutung. Zum einen bildet das verbale Satzglied, wenn es aus mehr als nur einem finiten Verb besteht, eine Klammer, in der der Rest des Prädikates, so vorhanden (weiter Prädikatsbegriff), sowie zum Prädikat gehörende adverbielle Bestimmungen eingeschlossen sind. Man spricht hier von der verbalen Satzklammer.

Verb mit trennbarem Präfix: Der Zug fährt morgen früh um 7.11 Uhr ab.

Umschriebene Verbform: Der Zug wird morgen früh um 7.11 Uhr abfahren.

Konstruktion mit Modalverb: Der Zug soll morgen früh um 7.11 Uhr abfahren.

Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom Vorfeld, dem Teil außerhalb der verbalen Klammer, und vom Nachfeld, dem Teil hinter dem finiten Verb, gegebenenfalls in der Satzklammer.

In Satzgefügen mit vorangestelltem Gliedsatz (Nebensatz) spricht man-fälschlicherweise – von der Inversionsstellung des Subjekts; man meint damit, Subjekt und finites Verb seien „vertauscht“; das stimmt eigentlich nicht, denn das Verb behält seine zweite Position, die erste wird eben nur durch einen Gliedsatz eingenommen.

Weiterhin gibt die Position des finiten Verbs im Deutschen einen Hinweis auf die Satzart, und zwar

– bei Zweitstellung handelt es sich um einen Aussagesatz (Mitteilungssatz, Feststellungssatz; die Bedeutung und kommunikative Funktion bleibt hier unerörtert) oder um einen Fragesatz mit Fragepronomen (Ergänzungsfrage).

Der Zug fährt morgen früh um 7.11 Uhr ah. Wann fährt der Zug ab?

– bei Spitzenstellung (Stirnstellung, Frontstellung) handelt es sich um einen Fragesatz (Entscheidungsfrage), um einen Aufforderungssatz (Befehlssatz) oder um einen Ausrufesatz; bei letzterem würde das Verb in mündlicher Rede besonders betont, das wird syntaktisch durch die Spitzenstellung angezeigt.

Fährst du mit dem Zug? Fahr doch mit dem Zug!

Fahre ich da gestern im Zug und treffe ausgerechnet das blonde Mädchen.

Bei allen drei Satzarten können in der mündlichen Rede auch andere Stellungen verwendet werden; die Betonung signalisiert dann die Satzart; im geschriebenen Text wird das durch Satzschlusszeichen angezeigt, vgl.

Du kommst morgen. (Keine besondere Betonung, Aussagesatz)

Du kommst morgen? (Stimme am Ende gehoben, Fragesatz)

Du kommst morgen! (Betonungsakzent auf kommst, Stimme am Ende gesenkt, Aufforderungssatz)

– Bei Endstellung schließlich handelt es sich um einen Gliedsatz (Nebensatz).

Wann der Zug morgen früh abfährt, weiß ich nicht genau. Ich weiß nicht genau, wann der Zug morgen früh abfährt.

Text 11. Stellung und kommunikativeFunktion

(Karl-Dieter Bünting)

Soweit die Möglichkeiten und Restriktionen der Wortstellung und Satzgliedstellung für die Kennzeichnung syntaktischer Funktionen, seien es Satzteilfunktionen oder Satzarten, von Bedeutung sind, sind sie nicht beliebig und sind sie somit grammatische Regularität. Soweit jedoch verschiedene Varianten gleiche syntaktische Funktion haben, hat die jeweilige Variante - möglicherweise - andere, über die Syntax hinausgehende Funktion. Schon immer ist die Ansicht vertreten worden, Auswahl aus systematischen Möglichkeiten sei ein konstitutives Merkmal für Stil. Bei der Wortstellung spricht man so z. B. von Nachtragstil, wenn nachgestellte Attribuierungen sich häufen, oder man weist der ersten Stelle im Satz einen besonderen Betonungscharakter zu.

Einen Zusammenhang sieht man auch zwischen dem Neuigkeitswert von Teilen und der Wortstellung; man spricht hier von der funktionalen Satzperspektive und greift die Thema-Rhema-Unterscheidung auf: Nach dieser Ansicht wird das Thema, das Bekannte, das einen neuen Satz mit vorher Gesagtem verknüpfen mag, zuerst gesagt; das Neue (Rhema), welches darüber gesagt wird, folgt. Bei stärkerer emotionaler Beteiligung hinsichtlich des Neuen, bei größerem Mitteilungsdrang hingegen wird zunächst das Neue (Rhema) gesagt und dann folgt die bekannte Bezugsgröße (Thema). Diese Ansicht ist umstritten und wohl kaum als durchgängige Regularität festzuhalten.

Text 12. Sprechakte

(Karl-Dieter Bünting)

In der pragmatischen Linguistik befasst man sich speziell mit der Analyse der sprachlichen Anteile an kommunikativen Handlungen. Man geht davon aus, dass Kommunikation zwischen Menschen eine zwischenmenschliche Handlung (Interaktion) ist und bestimmt Art, Anteil und Funktion speziell sprachlicher Kommunikation; als Terminus wird meistens für das Phänomen im allgemeinen „Sprechakt“ verwendet, für einzelne, spezielle kommunikative, durch Sprache mögliche Handlungen wie Fragen oder Auffordern verwendet man häufig den Terminus „Sprachhandlungen“ oder auch „Sprechhandlungen“. Man knüpft an Überlegungen des Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein zum „Sprachspiel“ (aus den „Philosophischen Untersuchungen, die in den 1930er und 40er Jahren entstanden), an John Austins in mehreren Vorlesungen entwickelte Überlegungen über „How to do things with Words“ (1962) und an die etwas systematischeren Ausführungen John Searles „Speech Acts“ (1969) an. In Deutschland arbeitet besonders Dieter Wunderlich auf diesem Gebiet („Sprechakte“ in „Pragmatik und sprachliches Handeln“).

Ausgangspunkt für die Sprechaktanalysen ist die Überlegung, dass beim Reden jemand

A sich sprachlich äußert (und nicht z. B. durch Gesten)

B dass er etwas sagt

C dass er sich in einer Redesituation (Kommunikationssituation) befindet

D dass er – normalerweise – zu jemandem (Gesprächspartner) spricht

E dass er durch dieses Sprechen – eben den Akt des Sprechens, den Sprechakt – die Kommunikationssituation beeinflusst und auf den Kommunikationspartner einwirkt.

Dieser sprechakttheoretische Rahmen von Faktoren, die beim Sprechen zusammenwirken, sei anhand des Beispiels vom Ober und der Dame erläutert, wobei die heute gemeinhin verwendete Terminologie eingeführt wird. Auszugehen ist mithin von der Äußerung des Obers:

„Entschuldigen Sie bitte vielmals, aber wollen Sie die Gans wirklich allein verspeisen?“, eingebettet in die geschilderte Szene. Die Analyse ergibt folgende Teilaspekte:

1. Der Ober äußert sich (u. a.) sprachlich, in Austins Terminus: er vollzieht einen lokutionären Akt (A und B). Dieser lässt sich weiteranalysieren, nach gängigen linguistischen Kategorien, als

a) phonetischer Akt: es werden Sprachlaute artikuliert – entschuldigen Sie vielmals … (Teil von A)

b) phatischer Ak: es handelt sich um eine Lautfolge, welche Wörter und Wortfolgen und — in adäquater grammatischer Konstruktion – Sätze einer bestimmten Sprache darstellen, zu beschreiben als Anredeform Sie, Fragesatz usw. (Teil von A)

c) rhetischer Akt: die Äußerung hat eine bestimmte Bedeutung, d. h. die Äußerung bezieht sich auf etwas, hat eine Referenz (hier: angeredete Dame, Missgeschick mit dem Gänsebraten usw.) und über den bezeichneten Sachverhalt wird zugleich etwas ausgesagt, die Äußerung hat einen Sinn (meaning-Semantik; hier: Frage, ob die Dame den Braten allein verspeisen wolle) (B).

2. Mit dieser Äußerung greift der Ober kommunikativ in die gegebene Situation ein (C); er macht sie somit zu einer Kommunikationssituation, spezieller: Gesprächssituation mit – seiner Intention nach – der angesprochenen Dame und sich selbst als Gesprächspartner (D). Zur gegebenen Situation gehören der institutionelle Rahmen (Restaurant) sowie das Rollengefüge (Ober – Gast; Herr – Dame) und die damit verbundenen Rollenerwartungen. Indem der Ober in die – durch das Stolper-Missgeschick ausgelöste – Interaktion mit seiner Äußerung eingreift, wirkt er auf die angesprochene Dame kommunikativ ein. Austin spricht hier von einer kommunikativen Wirkkraft (communicative force) und vom illokutiven Akt als Teil des Sprechaktes (E). Im Beispielfall hat die Dame sich nicht nur mit dem Missgeschick auseinanderzusetzen, dass der Ober ihr den Gänsebraten in den Schoss stolpert, sondern auch mit seiner kommunikativen Äußerung, in welcher er ein ganzes Bündel von Vorschlägen, Angeboten zur Regelung der beiderseitigen, so misslich aussehenden Beziehungen macht: er entschuldigt sich, er gibt sich durch die Anrede in die institutionell vorgeschriebene Position bzw. signalisiert, dass er sie einnimmt; schließlich verwendet er die Rollenbeziehungen (Speise-Servierender und Speise-Erhaltende im Restaurant) und passt sie in grotesker Weise auf die gegebene Situation an, um einen humorvollen Ausweg anzuregen.

3. Die letztgenannte Handlung des Obers, der Vorschlag, wie man die gemeinsame Situation weiterhin gestalten solle, wird manchmal perlokutiver Akt genannt. Durch eine Unterscheidung zwischen illokutivem und perlokutivem Akt versucht man einen Unterschied zu erfassen zwischen konventionellem, d. h. erwartbarem Eingehen auf die Interaktion und unkonventionellem Versuch, eine Interaktion gezielt zu steuern.

Am Problem der Interaktionssteuerung und der Konventionen in diesem Bereich wird die Sprechaktanalyse noch arbeiten müssen. Der sehr gewichtige Beitrag der Sprechakttheorie zur Linguistik ist jedoch sicherlich, dass sie die bekannte „double articulation“ sprachlicher Äußerungen (1. Sprachkörperebene der Laute, grammatische Formen und Konstruktionen; 2. Inhalts- bzw. Bedeutungsebene) erweitert hat um einen dritten Bereich, indem die kommunikative Kraft und Wirkung einbezogen worden sind.

In sprechakttheoretischen Untersuchungen wird weiterhin der Rahmen über den Verlauf eines Gesprächs hinaus auf sein Ergebnis ausgedehnt. Es wird untersucht, ob ein Sprechakt Erfolg hatte, ob er geglückt ist. Glücken ist ein Urteil, das nicht allgemein auf die Kommunikation zielt – die Kommunikation als solche findet entweder statt oder nicht. Glücken bezieht sich auf die kommunikativen Absichten der Gesprächspartner. Hier ist nun allerdings genau zu unterscheiden zwischen dem Glücken eines Sprechaktes und dem Glücken einer Handlungsabsicht. Ein Sprechakt ist dann geglückt, wenn der Gesprächspartner verstanden hat, was der Sprecher will. Damit ist noch nicht gesagt, dass der Angesprochene auf die Absichten des Sprechers eingehen wird. Am Beispiel erläutert:

– Würde die Dame auf die Äußerung des Obers hin ihrerseits laut rufen: „Herr Geschäftsführer, Ihr Ober ist ein Flegel, er beschmutzt mich mit Braten und beschimpft mich obendrein“, dann wäre der Sprechakt des Obers nicht geglückt, sie hatte ihn nicht verstanden.

– Würde die Dame antworten: „Ich finde das gar nicht lustig, und Ihre Bemerkung ist eine Unverschämtheit. Holen Sie sofort den Geschäftsführer", dann wäre der Sprechakt geglückt; sie hatte die Absicht des Obers verstanden, dass er aus der Si­tuation ohne Unannehmlichkeiten für sich selbst herauskommen möchte; aber sie ist nicht bereit, darauf einzugehen. Die Intention des Obers ist mithin ohne Erfolg geblieben.

– Würde die Dame antworten: „Warum geben Sie mir denn die ganze Gans, ich wäre mit der halben auch zufrieden gewesen?", dann wäre sowohl der Sprechakt geglückt als auch die Intention des Obers.

Text 13. Die deutsche Sprache. Gesprochene und geschriebene Sprache

(Hans Eggers)

Wo Menschen miteinander leben, haben sie auch eine gemeinsame Sprache. Denn damit sie zusammenwirken können, müssen sie sich durch Sprache verständigen. Soziologen haben für das Zusammenleben und -wirken den Begriff „Verkehrsgemeinschaft“ geprägt. Für die Menschen, die darin leben, ist „Kommunikation“ unerlässlich, und das erzwingt geradezu eine gemeinsame Sprache. Die eigene Familie ist die engste Verkehrs- und Sprachgemeinschaft. Aber jeder Mensch verkehrt auch in größeren Gemeinschaften, der Gemeinde, der Stadt, der Landschaft. Man hat in diesen engeren oder weiteren Gruppen viel Gemeinsames miteinander, hat die gleichen Sitten und Gebräuche, wirtschaftet nach gleichem Muster, feiert die gleichen Feste, hat überhaupt viele gemeinsame Interessen. Die Sprache wird durch diese gemeinsamen Bedürfnisse geprägt. Wer im Gebirge lebt, dem ist die Seefahrt fremd und er hat deshalb in seiner Sprache auch kaum Ausdrücke dafür, und wer an der Meeresküste wohnt, braucht sich nicht über Gemsjagd und Almwirtschaft zu verständigen. So entstehen regionale Sprachen, die von den Lebensbedingungen und Lebensformen geprägt werden. Man nennt sie „Mundarten“ oder „Dialekte“. In der Regel bleiben sie „schriftlose Sprachen“, weil das Alltagsleben keiner Schrift bedarf.

Dorf und Landschaft aber stehen in einem größeren politischen Verband; sie sind Teile eines großen Staates, in dem „Nationalsprachen“ entstanden, die sich über die einzelnen Mundarten erhoben. Dadurch wurde es notwendig, aufkommende Bedürfnisse überregional zu regeln und sie schriftlich zu fixieren.

Was gesprochen wird, ist rasch verklungen; nur das Geschriebene hat Dauer. Darum kann sich die Darstellung der Geschichte einer Sprache nur auf geschriebene Zeugnisse stützen. Nur an ihnen kann man zeigen, wie sich eine Sprache im Laufe der Jahrhunderte verändert. Das bedeutet aber auch Einschränkungen. Weil nämlich die Sprache des Alltags, die Mundart, der Niederschrift selten gewürdigt wurde, wissen wir nur wenig über die Alltagsrede jeder Zeit. In der „Schriftsprache“ erfassen wir nun eine Sprachform, die über die täglichen Bedürfnisse hinausgeht, eine Sprache, in der abstrakte Vorstellungen ausgedrückt werden, in der man philosophieren und über höchste Dinge nachdenken kann, und in der die Schriftsteller ihre Werke gestalten können.

Diesen hohen Stand haben die Kultursprachen in Ost und West längst alle erreicht. Doch steht die Einheit der Schriftsprachen fast überall nur auf dem Papier. Denn lange, bevor wir in der Schule schreiben lernen, haben wir unserer Mutter die gesprochene Sprache mit all ihren Eigenheiten abgelauscht. Damit haben wir Sprachgewohnheiten angenommen, die wir im Laufe unseres Lebens nur sehr schwer ablegen. Mag ein Deutscher immer „hochdeutsch“ reden, die meisten verraten, sobald sie den Mund aufmachen, durch die Lautbildung und vor allem die Satzmelodie, den Tonfall, aus welcher Landschaft sie stammen. Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es zwar genaue Vorschriften,,,Normen“, für die „Bühnenaussprache“ oder - wie es heute heißt - die „Hochlautung“. Bislang hat es nicht viel genützt. Da aber Schauspieler und Rundfunksprecher die Norm beherrschen, ist anzunehmen, dass auch die hochdeutsche Aussprache allmählich so einheitlich werden kann, wie es die Schrift längst ist.


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