Text 14. Die Entstehung der deutschen Sprache

(Hans Eggers)

Auf deutschem Boden fingen gelehrte Schreiber ungefähr um das Jahr 750 an, Texte in der Sprache des eigenen Volkes zu schreiben. Vorher hatten sie Jahrhunderte lang nur lateinische Texte abgefasst oder abgeschrieben. So können wir heute auf zwölf Jahrhunderte schriftlicher und seit dem 15. Jahrhundert auch gedruckter Überlieferung zurückblicken. Das bedeutet zwölf Jahrhunderte deutscher Sprachgeschichte.

Wurde aber wirklich um 750 schon „deutsch“ geschrieben, und hat Karl der Große, als er im Jahre 768 zum König der Franken gekrönt wurde, sein Heer schon „auf deutsch“ begrüßt? Karl wurde auf einer der reichen Besitzungen seiner Familie im oberen Moseltal, in der Gegend um Metz, geboren, und er selbst nannte seine Muttersprache,,fränkisch“. Er beherrschte ein gewaltiges Reich, fast ganz Frankreich, das schon seine Vorfahren den Römern abgewonnen hatten, Oberitalien und das germanische Land bis an die Elbe und die Saale. Der germanische Frankenstamm hatte die anderen Germanenstämme, die Alemannen und Baiern, und Karl selbst dazu noch die Sachsen unterworfen. Sie gehörten seither zum Frankenreich, aber ihr Streben nach Selbständigkeit war ungebrochen, und ihre Sprachen nannten sie „fränkisch, alemannisch, bairisch“ und „sächsisch“. Im Westen und Süden des Reiches sprachen die Einheimischen wie schon vor der fränkischen Eroberung immer noch die „Lingua Romana“, die Sprache Roms. Die Germanen konnten diese fremde Sprache nicht verstehen, wohl aber verstanden sie sich trotz ihrer verschiedenen Mundarten untereinander. Darum nannte Karl in seinen (lateinisch geschriebenen) Urkunden und Erlassen diese Sprachen die „Lingua theudisca“. Das war ein künstlich gebildetes Wort, abgeleitet von germanisch „theuda" = „das Volk“, bedeutet also „die Sprache des eigenen Volkes“ im Gegensatz zu der Sprache der Romanen. Erst um das Jahr 1000 tauchte die Bezeichnung „in diutiscun“, d.h. „auf Deutsch“ auf. Der gelehrte Alemanne, der so schreibt, hat also begriffen, dass das Fränkische, das Bairische, das Alemannische und das Sächsisch nur besondere Formen einer gemeinsamen Sprache sind.

Deutlich erkennt man hier die Wirkung der Verkehrsgemeinschaft in einem politischen Großraum. Denn nachdem das weite Frankenreich unter den Nachfolgern Karls des Großen mehrmals aufgeteilt wurde, entstand in seinem Ostteil die große politische Einheit, aus der das Reich der Deutschen hervorgehen sollte. Die politische Verbundenheit führt zu einem Gefühl der Einheit. Die einzelnen Stämme erkennen, dass sie zwar etwas Eigenes darstellen, dass sie aber alle einem Reich angehören und deshalb auch nach außen hin gemeinsame Interessen zu wahren haben.

Dabei ist die Entstehung der gemeinsamen Sprache innerhalb des politischen Großraums vor allem auf den kulturpolitischen Willen Karls des Großen zurückzuführen. Immer wieder schärfte er den hohen Geistlichen ein, sie sollten für die Ausbreitung und Vertiefung des Christentums sorgen, und sie sollten die christliche Lehre in den Landessprachen verkünden. Das war im Westreich nicht allzu schwierig, wo ja die Sprache Roms, wenn auch in gewandelter Form, noch weiterlebte.

Im germanischen Osten war dazu aber eine gründliche Neugestaltung der Sprache nötig. Denn die vor kurzem noch heidnischen Stämme kannten die christlichen Glaubensvorstellungen und die Lehre noch kaum. Tausende von neuen Wörtern mussten gefunden werden, um die lateinischen Texte der Bibel und der Kirchenlehrer in die Volkssprache zu übertragen, und diese äußerst schwierige Aufgabe hatten die vier Stämme gemeinsam zu lösen. So entstand aus den vier noch heidnisch geprägten Stammessprachen die christliche deutsche Kultursprache und gleichzeitig auch das Bewusstsein der Gemeinsamkeit, das mit dem Wort „deutsch“ ausgedrückt wird.

Wollten wir sehr genau sein, so dürften wir für die ersten drei Jahrhunderte unserer Sprachgeschichte noch nicht von einer deutschen Sprache reden. Aber Karl der Große hat den politischen Raum geschaffen, der zum Sprachraum wurde, und er hat die große kulturelle Aufgabe gestellt, die die vier Stamme gemeinsam bewältigten. So rechnen wir auch für diese Zeit bereits mit einer deutschen Sprache; denn es ist die Zeit des „werdenden Deutsch“.


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