Werter Nachwuchs. Die nie geschriebenen Briefe der Emma K

 

Liebe Schwiegertochter!                                                    

Du hast Dich unlängst darüber gewundert, dass ich mit meinem Leben zufrieden bin. Du, an meiner Stelle, hast Du gesagt, wärst das nicht. Zuviel Mühe und Plage und Entbehrung, hast Du gesagt, zuwenig sorgenfreie Stunden und] Wohlleben. Sicher, so kann man das auch sehen. Leicht war mein Leben wirklich nicht. Bis auf ein paar seltene Ausnahmen haben es die Frauen meiner Generation überhaupt nicht leicht gehabt. Zwei Kriege, zweimal Nachkriegszeit, und dazwischen auch nicht viel zu lachen. Wenn ich mein Leben aus dem Blickwinkel „Wohlstand" betrachte, muss ich feststellen, dass ich erst jetzt, im Alter, ein sorgenfreies Leben habe. Das heißt: Ich komme mit meiner Pension aus und muss mir nicht den Kopf zerbrechen, woher ich das Geld für die Miete, das Essen und die Kleidung nehmen soll.                                    

Aber ob man mit seinem Leben zufrieden ist, hängt ja nicht nur vom Geld, das man gehabt oder nicht gehabt hat, ab, sondern davon, ob man sein Leben „gemeistert" oder „verpfuscht" hat. Ich will ja nicht selbstgerecht sein, aber ich I habe doch das Gefühl, nicht allzusehr gepfuscht zu haben. Ich habe, im großen und ganzen, das Gefühl, „das Beste" aus meinem Leben gemacht zu haben. Ich meine das so: Wenn man nur Mehl im Haus hat, dann kann man keine Torte backen. Aber einen erstklassigen Strudelteig! Und ich war immer eine Spezialistin für Strudelteig! Glaub ja nicht, liebe Schwiegertochter, dass ich die Armut und das Nichtshaben loben und preisen will. Ich hätte mein Lebtag lang gern mehr Geld gehabt. Ich könnte sogar jetzt ganz gut mehr Geld vertragen. Wichtiger ist, dass ich auch ohne viel Geld zurechtgekommen bin. „Als wir klein waren", sagt doch Dein Mann oft, „da war die Mama immer gut auf gelegt!" Das war ich in Wirklichkeit natürlich nicht immer. Aber wenn ich meinem Sohn in Erinnerung so bin, dann macht mich das zufrieden.

„Das Firmungskleid, das mir die Mama genäht hat, war das schönste von allen", sagt Deine Schwägerin. War es natürlich nicht. Die „reichen" Kinder hatten viel schönere Kleider. Aber wenn das meine Tochter so in Erinnerung hat, macht mich das zufrieden. Und wenn mein Sohn behauptet, dass das Essen bei uns daheim immer viel besser gewesen sei, als bei seinen Schulfreunden — was natürlich objektiv gesehen auch nicht stimmt —, dann macht mich das sogar stolz. Lauter Kleinigkeiten seien das, meinst Du? Kann sein. Aber erstens besteht so ein Durchschnittsleben halb aus lauter Kleinigkeiten, und zweitens, wenn wir von den „großen" Sachen reden wollen, dann fällt mir auch etwas ein: Es gibt, so hoffe ich wenigstens, keinen Menschen, der wirklich böse auf mich ist, der von mir sagen könnte: „Diese Frau hat mir das Leben schwer gemacht!"

Und das, liebe Schwiegertochter, ist doch wahrlich ein Grund, mit seinem Leben zufrieden zu sein, meint

Deine Schwiegermutter

Erläuterungen

die Plage – mühsame, schwere Arbeit, Not

die Entbehrung – Not, Mangel an Nötigem

verpfuschen – verderben

der Strudelteig – Hefeteig mit eingerolltem Obst und Fleisch

gut aufgelegt sein – gut gelaunt sein, guter Laune sein

das Firmungskleid – ein Kleid zur Firmung (kath. Sakrament, vollzogen vom Bischof durch Salbung und Handauflegen)

 


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