I. Lesen Sie den Text durch und sagen Sie: Ist der Mieter wirklich ein ruhiger Mensch ? Beweisen sie das

Vor kurzem bin ich in eine Neubauwohnung eingezogen. Herr Marlowe, den mir ein gütiges Schicksal als Nachbarn zugedacht hatte, erwies sich vom ersten Tage an als ein ruhiger, solider Mieter.

Ich hatte doch vorher in schlaflosen Nächten vor dem Umzug an eine kinderreiche Familie gedacht, an ein streitsüchtiges Ehepaar, an einen Musikstudenten mit Basstuba oder Pianino. Herr Marlowe, gottlob, war Junggeselle und Kunsthistoriker, ein Mensch von gemessenen Umgangsformen und ohne jeden Anhang. Während der ersten Wochen vernahm ich durch die dünnen Wände nichts als ein gelegentliches Räuspern oder das Läuten seines Weckers. Eines Abends jedoch – ich war zeitig zu Bett gegangen – erhob sich im Treppenflur wüster Lärm. Zu meinem Erstaunen klingelte die rüde Schar bei meinem soliden Nachbarn. Ich musste mich verhört haben! Das konnte doch nur ein Irrtum sein! Jeden Moment musste Herr Marlowe die Tür öffnen, sich den unziemlichen Radau verbitten und die Ruhestörer des Hauses verweisen. Ich lag mäusenstill auf meinem Bett und lauschte. Herr Marlowe schien zu öffnen. Eine grölende Stimme rief: „Hallo, alter Halunke! Sind die Flaschen kalt gestellt?“

Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich kein Kind von Traurigkeit bin. Aber infernalischer Lärm nebenan nahm von Stunde zu Stunde zu und versetzte mich in Empörung. Er war einfach unmenschlich. Nicht genug, dass das Radio auf höchste Lautstärke gebracht wurde. Drei Mann mindestens schienen sich bemüßigt zu fühlen, mit Topfdeckeln und Waschbrettern den Takt zu verstärken. Andere warfen, wie es sich anhörte, mit Blumenvasen nach den Fensterscheiben. Und das alles, bevor noch den ersten Flaschen die Hälse abgeschlagen waren! Es wird Geburtstag haben, dachte ich nachsichtig. Morgen früh wird er sich entschuldigen.

Bis zum Morgen war es lange hin. Gegen Mitternacht kündigte sich durch begeistertes Grölen eine Überraschung an. Einer der Besucher schien Feuerwehr zu sein. Ich hörte es an der Art, wie er die Explosionen zeitlich staffelte. Hugo, mein Freund, ist nämlich auch Feuerwerker. Nachdem das Pulver verschlossen war, erhob sich ein rauher Männerchor zu dem Lied: „Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd…“ Da die Gäste dabei auf Stühlen um den Tisch zu reiten schienen – ich fürchtete, das die Zimmerwand einstürzen könnte-, blieb mein bescheidenes Klopfen ungehört. Ich stopfte mir Watte in die Ohren: „Ruhig bleiben“, sagte ich mir. Du hast auch Besuch. Allerdings benehmen sich deine Freunde anständiger.

Um die dritte Morgenstunde kam einer auf den Einfall, ein Fußballspiel zu veranstalten. Dem Einfall folgte gleich darauf die Tat. Jedes Tor wurde mit Beifallstürmen auf der einer und mit heftigem Protest auf der anderen Seite bedacht. Zwischendurch öffnete man Sektflaschen. Da ich, wie schon gesagt, auch die Nacht zuvor nicht geschlafen hatte, wuchs mein Zorn mit jeder Stunde. Als der Tag graute, erreichte die Stimmung bei meinem Nachbarn ihren Höhepunkt. Der eine sang pausenlos „La Paloma“, der andere hämmerte mit einem eisernen Gegenstand. Der Dritte stritt mit dem Vierten, ob der Südpol das Gegenteil vom Nordpol sei oder nicht. Ich ertrug es nicht und klingelte bei meinem Nachbarn.

Er öffnete sofort. Zu meinem Erstaunen sah er ziemlich nüchtern aus. „Guten Morgen, Herr Marlowe“, sagte ich bissig. Er dankte mit bestehender Höflichkeit. Mich wunderte, dass er im Schlafanzug war.

„Sie werden entschuldigen, wenn ich störe“, sagte ich. „Es ist nicht so, dass ich gegen Gastlichkeit bin. Ich habe auch manchmal Besuch…“

„Ich weiß“, lächelte Marlowe, bescheiden und höflich wie immer.

„Dieser Lärm jedoch ist unerträglich. Ich möchte hinzufügen, dass ich schon eine Nacht nicht geschlafen habe…“

„Das war nicht meine Schuld“, erwiderte mein Nachbar lächelnd. „Außerdem geht es mir ebenso“.

Seine Gelassenheit irritierte mich etwas. Da jedoch der wilde Lärm in seiner Wohnung abermals aufbrandete – man einigte sich darauf, die Möbel umzuräumen, um mehr Platz bei der Vorführung asiatischer Volkstänze zu haben, – fragte ich: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Herr Marlowe, den Radau in Ihrer Wohnung auf ein erträgliches Maß zu vermindern?“

„Durchaus nicht“, sagte er freundlich.

Er trat zurück, stieß die Wohnzimmer auf…

Die Wohnung war leer. Herr Marlowe aber ging in die Zimmerecke und stellte das Tonbandgerät ab.

„Wie?“ stammelte ich, die Zusammenhänge ahnend, „wie, Herr Marlowe…?“

„Nichts für ungut, Herr Nachbar“, sagte er freundlich. „Sie waren gestern so vergnügt mit Ihren Freunden, dass ich Ihnen eine kleine Erinnerung erhalten wollte…“

Rudi Strall

Texterklärungen

der Mieter, - in eine neue Wohnung einziehen (o, o) etw. zudenken (dachte zu, zugedacht) (als) sich erweisen (ie, ie) (als Akk. und Nom.) ein Mensch von gemessenen Umgangsformen ohne Anhang gelegentliches Räuspern Ich war zeitig zu Bett gegangen. Ich musste mich verhört haben! das Irrtum, -tümer sich (Dat.) etw. verbitten (a, e) Radau machen (te, t) die Ruhestörer des Hauses verweisen (ie, ie) alter Halunke Ich bin kein Kind von Traurigkeit. j-n in Empörung versetzen (te, t) die Überraschung, -en sich ankündigen (te, t) Er schien Feuerwehr zu sein. Dem Einfall folgte gleich darauf die Tat die Nacht zuvor zu meinem Erstaunen Seine Gelassenheit irritierte mich etwas Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn…? etw. auf ein erträgliches Maß vermindern (te, t) Durchaus nicht Nichts für ungut vergnügt sein eine Erinnerung erhalten (ie, a) Квартиросъемщик въезжать в новую квартиру приготовить, предназначать (в качестве) оказываться (кем-л., чем-л.) человек со степенными манерами   одинокий (без семьи) случайное покашливание Я рано лег в постель. Я должно быть ослышался! недоразумение протестовать против чего-л., заявлять протест галдеть, шуметь делать замечание нарушителям покоя в доме старый негодяй Я не зануда. возмутить кого-л. сюрприз оглашаться Он, казалось, изображал пожарную команду. зд.: сказано – сделано. предыдущая ночь к моему удивлению Его невозмутимость немного сбила меня с толку. Вас не затруднит, если…?   (что-л.) уменьшить до приемлемых размеров Непременно; во что бы то ни стало Не в обиду будет сказано. быть веселым, довольным сохранить воспоминания

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