Genitiv und Akkusativ

Im Bereich von Substantiven und Adjektiven möchte ich hier nur auf die Kasusverwendung hinweisen, und zwar auf die des Genitivs und des Akkusativs. Hinsichtlich des Genitivs ist die Klage über den Verfall dieses Kasus mittlerweile beinahe sprichwörtlich. Dies deckt aber in Wirklichkeit nur einen Aspekt der Sprachwandelprozesse bezüglich dieses Kasus ab. Vielmehr muss hier dreierlei differenziert werden; erstens Bereiche, in denen die Genitivverwendung zunehmend an Bedeutung verloren hat, zweitens Bereiche, in denen sie sich bislang gehalten hat, sowie drittens Bereiche, in denen sie sich eher ausgebreitet hat. Für den ersten Fall, d. h. für die Verdrängung bestimmter Genitivkonstruktionen, sei hier vor allem auf Verben und Adjektive verwiesen, die den Genitiv regieren und in den Wörterbüchern zunehmend als veraltend, veraltet usw. markiert sind. Beispiele sind sich jds. schämen, jds. gedenken oder einer Sache teilhaftig und einer Sache kundig. Eine besondere Rolle für das Bewusstsein des Genitivschwundes spielt aber gerade auch die Konjunktion wegen, bei deren Verwendung mittlerweile häufig der Dativ den Genitiv verdrängt hat. Für den zweiten Bereich, d. h. die Erhaltung des Genitivs, kann vor allem die Juristen- und Verwaltungssprache herangezogen werden, in der zahlreiche Genitivattribute Verwendung finden. Für den dritten angesprochenen Bereich, d. h. die Ausweitung des Genitivgebrauchs, sei ebenfalls auf die Amtssprache verwiesen, in der häufig Konjunktionen und Konjunktionaladverbien wie kraft, betreffs usw. eingesetzt werden, die den Genitiv fordern und die meist Resultat einer jüngeren Entwicklung sind. Während sich die Veränderungen hinsichtlich des Genitivs gleichgewichtig auf gesprochene und geschriebene Sprache erstrecken, taucht das Phänomen der fehlenden Akkusativendung besonders in der gesprochenen Umgangssprache auf. In Sätzen wie „Mach kein Mist“ (eigentlich korrekt „Mach keinen Mist“) ist anhand der Satzstellung aber dennoch das entsprechende Nomen als Akkusativobjekt erkennbar. Allerdings stellt sich sofort die Frage, ob eine solche Erscheinung wirklich als ein Kasuswechsel – und damit als Sprachwandel – angesehen werden kann, oder ob es sich dabei lediglich um eine nachlässige Aussprache, d. h. um das Verschlucken von unbetonten Silben, handelt. In der geschriebenen Sprachform ist diese Nominativverwendung anstelle der korrekten Akkusativverwendung folgerichtig bislang auch eindeutig regelwidrig.

Präteritumsschwund

Bevor ich diesen Überblick beende, möchte ich noch kurz auf einige Erscheinungen beim Verbgebrauch eingehen. Der Präteritumsschwund, d. h. die Ersetzung von präteritalen Formen durch das Perfekt, und die „Abwanderung“ einiger starker Verben in die Klasse der schwachen Verben gehören bereits zu den als klassisch anzusehenden Entwicklungen des Deutschen. Viele ursprünglich starke Verben bilden neben ihren alten, starken Präteritumsformen neue, schwache Formen, die diese dann verdrängen. So gelten beispielsweise Formen wie sie frug oder er buk neben den neueren Präteritumsformen sie fragte und er backte der Verben fragen und backen schon länger als veraltet. Dieser Prozess, der bereits seit Jahrhunderten nachweisbar ist, erfasst immer wieder neue Verben und ist somit gleichsam ein integraler Bestandteil der deutschen Sprachgeschichte.

Verbale Verlaufsform

Wesentlich jünger ist eine Entwicklung, die zwar zunächst nur als eine regionale Einzelerscheinung angesehen wurde, mittlerweile aber im gesamten deutschen Sprachgebiet und in den Massenmedien, also auch in der geschriebenen Sprache, anzutreffen ist. Es handelt sich hierbei um die so genannte Verlaufsform mit der Konstruktion am + Infinitiv + sein. Sätze wie „Sie ist am Kochen“ oder „Er ist am Bügeln“ drücken aus, dass die jeweilige Handlung im Augenblick der Äußerung geschieht. Diese Entwicklungstendenz kann m. E. durchaus als Bereicherung des Formenbestandes der Verben angesehen werden, da mit ihr eine zusätzliche Möglichkeit zum Ausdruck temporaler und aspektueller Beziehungen geschaffen wird.

Präpositionelle Rektion

Eine weitere Erscheinung, die zwar gegen die geltenden Grammatiknormen verstößt, aber dennoch in der gesprochenen Umgangssprache zunehmend an Boden gewinnt, ist die präpositionelle Rektion. Dabei handelt es sich um die Zerlegung von Pronominaladverbien in ihre Einzelteile und deren Verwendung in Klammerstellung in Sätzen wie „Da bin ich nicht für“ anstatt „Dafür bin ich nicht“. Dies ist insofern problematisch, als die Pronominaladverbien (hier z. B. dafür) feste Lexeme sind, die nach bislang gültiger Regel nicht getrennt werden dürfen. Zurzeit ist dieses Phänomen noch auf die gesprochene Sprache beschränkt.

Ein weites Feld der Erörterung wäre die Vielfalt des Konjunktivs und damit auch der indirekten Rede.

Ausblick

Zum Schluss nur noch einige allgemeine Bemerkungen zu all diesen Entwicklungen und Entwicklungstendenzen im Gegenwartsdeutsch. Was heute noch als Fehler angesehen wird, kann morgen durchaus als Norm gelten. Speziell für die letzten Jahre kann man dabei eine Art Liberalisierung der grammatischen Normen feststellen. Die Tendenz zur Aufgabe strenger Normen ist aber nicht unumstritten und wird zumindest in konservativen Kreisen als Akzeptieren eines Verfalls der deutschen Sprache angesehen. Ein Blick in die Sprachgeschichte des Deutschen sollte aber auch die hartnäckigsten Gegner jedes Sprachwandels besänftigen, denn der Abbau gewohnter Formen führte in der Regel nicht zum Verlust von Ausdrucksmöglichkeiten, sondern wurde durch die Verwendung ganz neuer Mittel ausgeglichen. Wie bereits eingangs betont, ist und war unsere Sprache niemals ein festes Gebilde. Auch für sie gilt der Satz des Heraklit: „Alles fließt“.


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