Text 8. Nichteheliche Lebensgemeinschaft

nach Uwe Wesel

Es ist noch gar nicht so lange her, da stand hierzulande auf Kuppelei Zuchthaus. Heute leben in der Bundesrepublik drei Millionen Männer und Frauen ohne Trauschein zusammen

Im Jahr 1884 schrieb Friedrich Engels eines seiner bekanntesten Bücher, das heute noch in den Köpfen der Gebildeten herumgeistert: "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats", mit den Rinderherden am Anfang der Sesshaftigkeit, die nun den Männern gehörten, als neu entstandenes Privateigentum, weil sie es waren, die die Tiere immer so schön gehütet hatten. Das Privateigentum wollten sie auf ihre Söhne vererben, die als eigene aber nur in einer festen Ehe sicher zu identifizieren waren, so dass die Familie entstand und darüber, zur Sicherung des Ganzen, der Staat.

Heute weiß man längst, dass Engels sich geirrt hat. Der Staat ist aus anderen Gründen entstanden, nicht wegen des bösen Privateigentums. Und die Familie ist viel älter. Es gab sie schon bei Sammlern und Jägern. Die neuesten Schätzungen gehen zurück bis weit in die Altsteinzeit.

Heute scheint das Ende der bürgerlichen Familie gekommen zu sein, und das Stichwort heißt nichteheliche Lebensgemeinschaft. Lange hat man daran herumformuliert, nannte es freie Lebensgemeinschaft, freie Ehe, wilde Ehe, Onkelehe, Partnerschaft, Ehe ohne Trauschein, Verhältnis oder Konkubinat. Die Juristen haben sich geeinigt auf nichteheliche Lebensgemeinschaft. Abgekürzt neL.

Meistens sind es wohl Jüngere, die ohne Trauschein zusammenleben. Aus vielen Gründen. Manche fühlen sich noch zu jung, um sich schon fest zu binden. Andere lehnen so etwas grundsätzlich ab. Oder es sind Ältere, die sich nicht mehr binden wollen. Und es gibt viele, die fürchten ganz einfach Gefahren im Hin und Her der Formalitäten einer späteren Scheidung und die finanziellen Konsequenzen.

Die Zahl derjenigen, die so leben, ist erstaunlich gestiegen, mit gemeinsamer Wohnung oder ohne, mit gemeinsamen Kindern oder nicht.

Die entscheidende Wende kam in den siebziger Jahren des XX Jahrhunderts. Damals fiel die erste juristische Schranke: 1974 wurde der Kuppeleiparagraph abgeschafft. Seitdem ist nur noch Kuppelei mit Minderjährigen strafbar oder bei Ausbeutung von Prostitution.

Seit 1970 kann man auch seinen Lebensgefährten oder seine Lebensgefährtin als Erben einsetzen. Natürlich werden immer noch einige Einschränkungen gemacht. z.B. wenn man mit dem Testament das Erbrecht von sehr nahen Verwandten oder Kindern ausschließen will, dann geht das nicht. Man darf Gatten und Kinder nicht auf ihr Pflichtteil beschränken. Das ist sittenwidrig.

Da nichteheliche Lebensgemeinschaften inzwischen von der Bevölkerung weitgehend toleriert werden, gibt man auch grünes Licht für nichteheliche Lebensgemeinschaften in Mietwohnungen. Aber wenn Mann und Frau ohne Trauschein zusammenleben, dürfen sie bei der Sozialhilfe nicht besser gestellt werden als Eheleute.

Mit der Gleichstellung der neL entstand ein juristisches Problem. Was ist denn eigentlich eine nichteheliche Lebensgemeinschaft? Wann beginnt sie? Und wann endet sie? Sie endet, wenn die beiden sich trennen und nicht mehr in derselben Wohnung leben. Darf man die Leute für eine neL halten, sobald sie in einer Wohnung zusammenzuleben beginnen? Es gibt doch auch ganz normale Wohngemeinschaften ohne eheähnliche Zuneigung. Genügt schon eine Wirtschaftsgemeinschaft, in der gemeinsam eingekauft wird, ohne dass es auf intime Beziehungen ankommt? Und die Juristen streiten sich bis heute um eine genaue Definition. Einige meinen, eine neL sei sogar ohne gemeinsame Wohnung möglich, wie eine Ehe auch.
Noch ein Problem ist ein nichteheliches Kind einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Wenn der Vater die Ehelicherklärung eines Kindes beantragt, so sind zwei Folgen möglich. Erstens erhält das Kind seinem Vater gegenüber die Stellung eines ehelichen Kindes. Und zweitens der Vater das Sorgerecht. Im Paragraph 1738 des Bürgerlichen Gesetzbuches steht: "Mit der Ehelicherklärung verliert die Mutter das Recht und die Pflicht, die elterliche Sorge auszuüben." Das bedeutet: ein gemeinsames Sorgerecht von Mutter und Vater kann es nur in der Ehe geben.

Ein konservativer Familienrechtler kann sagen: Wenn man Vorschriften des Eherechts auf freie Lebensgemeinschaften anwende, würde man die Ehe entwerten und ihr schaden. Andererseits kann passieren, dass da zwei zwanzig Jahre lang zusammen leben, sie macht den Haushalt, und er verdient viel Geld, von ihr geliebt, gepflegt, umsorgt. Ein gemeinsames Kind hat sie auch noch großgezogen, und nach zwanzig Jahren sagt der moderne Mensch adieu, das war's, es tut mir leid, es gibt eine neue Frau in meinem Leben. Und geht. Verheiratet waren sie nicht. Die Trennung ist leicht. Er hat viel Geld, und sie hat keins. Kann das richtig sein? Ist das gerecht?

Daraus muss man lernen, dass man sich in solchen Fällen für die Zukunft wenigstens durch eine schriftliche Vereinbarung über Unterhaltszahlungen absichern soll, die im Fall der Trennung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft vom Gericht akzeptiert wird. Man soll wenigstens einen Vertrag machen. Das geht auch zu Hause, ohne Anwalt, ohne Notar, ohne Standesamt nur mit Papier und Kugelschreiber. Solche Verträge werden in der Tat von Gerichten in Deutschland anerkannt und in Urteilen berücksichtigt.

In der Geschichte des Rechts sind die nichtehelichen Lebensgemeinschaften nichts Neues. Im alten Rom gab es die sogenannte manus-Ehe mit einem umständlichen Begründungsakt, ähnlich wie beim Standesamt. Daneben entstand eine freie Ehe und für sie entstanden dann neue, bessere Regeln.

Im deutschen Mittelalter war wie die römische manus-Ehe die sogenannte mundt-Ehe, in der ein Mann der Vormund seiner Frau wurde. Die Jüngeren aber wollten frei zusammen leben, und so entstand die Friedelehe, ohne Formalitäten, aber bald auch mit neuen Regeln.

Die Ehe und Familie sind älter, als die meisten glauben, sie wird weder zerstört noch beseitigt. Es entsteht nur einfach eine neue Form. Wenn staatliche Regeln nicht mehr passen, entwickeln sich daneben andere Formen. Und es ist auch ganz normal, dass sie zunächst diskriminiert werden. Es gibt inzwischen einfach eine neue Form von Ehe und Familie, die leichter geschlossen werden kann und in der es leichter ist, wieder auseinanderzugehen. Auch konservatives Familienrecht gilt nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.

(DIE ZEIT)

Wortschatzerläuterungen

die Kuppelei – сводничество;

der Trauschein - свидетельство о регистрации брака;

großziehen - воспитывать, растить (детей);

vererben - передавать по наследство; erben - наследовать; получить в наследство;

ankommen (auf A.) зависеть (от кого-л., от чего-л.), определяться (чем-л.);

es kommt darauf an — смотря по обстоятельствам;

wenn es darauf ankommt — если на то пошло;

darauf kommt es an — в том-то и дело;

die Wohngemeinschaft - коллектив жильцов; группа совместно проживающих людей;

die Ehelicherklärung – признание законнорожденным;

die Vereinbarung - соглашение, договорённость;

die Unterhaltszahlung – выплата содержания;

der Vormund – опекун;

Familienrecht – семейное право.

Aufgaben

1. Beantworten Sie die Fragen:

1. Was schrieb Friedrich Engels über die Entstehung der Familie? 2. Wie alt soll die Familie nach neuen Einschätzungen sein? 3. Welche Bezeichnungen gibt es für die freie Lebensgemeinschaft? 4. Aus welchen Gründen geht man eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein? 5. Welche juristische Schranke fiel 1974? 6. Was kann man seit 1970? 7. Welche Einschränkungen bleiben für einen Lebensgefährten oder eine Lebensgefährtin in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft bestehen? 8. Welche juristischen Probleme gibt es im Zusammenhang mit der neuen Form der Beziehungen zwischen Mann und Frau? 9. Wie wird die Mutter mit der Ehelicherklärung des Kindes in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft benachteiligt? 10. Wie kann man die Rechte eines der Partner der nichtehelichen Lebensgemeinschaft schützen, wenn man nach vielen Jahren des Zusammenlebens einen neuen Partner findet? 11. Welche Beispiele der nichtehelichen Lebensgemeinschaft gab es schon in der Geschichte? 12. Wie sieht die Zukunft der Familie aus?

Welche Probleme entstehen, wenn Mann und Frau ohne Trauschein zusammen leben? Wie änderte sich das Verhältnis zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft in der letzten Zeit?

2. Ergänzen Sie die fehlenden Wörter in den Sätzen:

Das Privateigentum wollten die Männer auf ihre Söhne ………..., die als eigene aber nur in einer festen Ehe sicher zu ……………. waren. Seit 1974 ist nur noch …………. mit Minderjährigen strafbar oder bei ……….. von Prostitution. Wenn man mit ……………. das Erbrecht von nahen Verwandten oder Kindern ausschließen will, dann ……… …… nicht. Ein gemeinsames ……………. von Mutter und Vater kann es nur in ………… geben. Man soll sich im Falle der Trennung für die Zukunft durch eine schriftliche ……….. über ……………. absichern.

3. Veranstalten Sie eine Diskussion über das Problem der nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Verwenden Sie dabei folgendes Sprachmaterial.

Es besteht kein Zweifel daran, dass...

das erklärt sich daraus, dass...

das hängt damit zusammen, dass

wenn man den Gedanken weiterführt, kommt man zu dem Schluss, dass...

4. Gliedern Sie den Text in Abschnitte und betiteln Sie jeden Abschnitt. Erzählen Sie den Text entsprechend Ihrer Gliederung nach.

* * *

Nachdem Sie die Texte der Lektion durchgenommen und die Aufgaben gemacht haben, müssen Sie fähig sein:

im Allgemeinen über deutsche Feste zu erzählen;

Berichte über Weihnachten, Ostern und Karneval zu machen;

über die Hochzeitsbräuche zu erzählen;

über das Problem der nichtehelichen Lebensgemeinschaft zu sprechen.


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