Text 2. Religion und Kirchen in Deutschland

Glaube ohne Kirche

Den Kirchen stehen radikale Reformen bevor

Die Tendenz der letzten Jahre in Deutschland sieht so aus: die Kirchen haben ihr jahrhundertealtes Monopol in religiösen Fragen verloren. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog betonte in seiner Rede zum Luther-Jahr: Unter den Bundesdeutschen fänden sich nicht nur “Christen und Nichtchristen”, sondern “Gläubige und Nichtgläubige” als eigene Kategorie. Kirchenmitgliedschaft allein sagt nur noch wenig aus.

Eine Zeitbombe tickt für die beiden großen Kirchen in Deutschland. 23 Prozent der evangelischen Christen und 24 Prozent der Katholiken haben nach einer Umfrage der Zeitschrift FOCUS des Meinungsforschungsinstituts INRA schon einmal ernsthaft an Austritt gedacht. Ein Viertel von ihnen will schon in nächster Zeit Taten folgen lassen.

“Glaube und Kirche sind zwei verschiedene Paar Schuhe, wovon ich mir das eine nicht unbedingt anziehen würde, die Kirche”, diktiert ein Interviewer dem Meinungsforschungsinstitut Allensbach ins Bandgerät und fährt mit einem Plädoyer für christliche Lebensgrundsätze und Erziehung nach den zehn Geboten fort. Viele Bundesbürger fühlen sich moralisch autark – ohne feste Bindung an Kircheninstanzen und Katechismus.

Fast ein Drittel der Konfessionslosen findet mindestens einmal im Jahr den Weg in den Gottesdienst, 21 Prozent beten regelmäßig, belegt die FOCUS-Umfrage. Ein Drittel der Konfessionslosen sieht sich selber als gläubig an – und nur 27 Prozent als “überzeugte Atheisten”.

“Viele von ihnen sind durchaus im christlichen Sinne als religiös zu bezeichnen”, erklärt der Kölner Religionssoziologe Robert Kecskes gegenüber FOCUS. Ob es ein jüngstes Gericht gibt oder man schon einmal die Hilfe Gottes erfahren habe, der Wissenschaftler versuchte im Kölner Stadtteil Riehl, Seelen zu vermessen: Gerade Konfessionslose schätzen christliche Rituale für Hochzeit und Beerdigung, 40 Prozent von ihnen wollen sogar ihre Kinder taufen lassen.

Selbst unter den Menschen, die keinen oder nur geringen christlichen Glauben besitzen, existiert bei immerhin 40 Prozent noch der Glaube an “eine höhere geistige Macht”. “Ein großes Potential für nichtchristliche Religionen”, erkennt der Soziologe.

Ob Buddhismus, Esoterikzirkel oder Sekten, alle machen sie der Kirche Konkurrenz. Glaube oder wenigstens die diffuse Sehnsucht danach ist vorhanden, “aber viele Menschen fühlen sich mit ihren Fragen woanders besser betreut”, formuliert Pfarrer Gerhard Dauwen seinen Frust.

Die Entfremdung zwischen Kirche und Gläubigen ist gewaltig: Jeweils drei Viertel oder mehr der Katholiken lehnen das Verbot vorehelicher Sexualität (82%), die Unfehlbarkeit des Papstes (78%), das Zölibat (75%) und den Ausschluss der Frauen vom Priesteramt (75%) ab.

Wenig Anhänger findet auch das protestantische Modell der politisch gefärbten Predigt: 81 Prozent könnten auf politische Wegweisung von der Kirchenkanzel verzichten.

Seit einem knappen Jahrzehnt verliert die evangelische Kirche stetig ein Prozent ihrer Mitglieder pro Jahr, die katholische ein halbes Prozent. Eine vorsichtige Schätzung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) rechnet mit einem Rückgang um mehr als ein Viertel bis zum Jahr 2040.

Die beiden großen Volkskirchen stecken in einer Krise, die radikales Umdenken unumgänglich macht.

Als erbarmungsloser Modernisierer zwingt der Geldmangel viele Diözesen und Landeskirchen zu Reformen. Seit Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit (und weniger wegen der Austritte) fließt die Kirchensteuer spärlicher.

Die Konsequenz: alle Bereiche müssen über erneute Kürzungen nachdenken. Die spannende Frage ist: Wo setzt die Kirche künftig Prioritäten? Die These, die Kirche brauche nur cleveres Management, um sich besser zu verkaufen, findet einen nachdrücklichen Protest: “Wenn die Kirche sich auf diesen Weg begibt, ist sie am Ende. Dann verdient sie es auch nicht anders.“ meint Ernst Benda, Präsidiumsmitglied des Deutschen Evangelischen Kirchentags.

Das Fazit: “Die evangelische Kirche ist der Gefahr erlegen, dass sich in ihr die unterschiedlichen Meinungen nicht mehr treffen und die Menschen aus den Kirchen heraus gepredigt werden”.

Es ist die Zeit ungewöhnlicher Ideen, um leere Gotteshäuser wieder zu füllen. Die Kirchen können in Wohnhäuser für Sozialmieter umgebaut, oder unter der Woche als Markthalle benutzt werden, um am Sonntag dort aber weiterhin Gottesdienst zu feiern. Ein Teil der Gotteshäuser wird zum überflüssigen Ballast.

Die kirchliche Geldknappheit trifft in Zukunft auch kommunale Kassen. In Oberbayern betreibt die katholische Kirche die Hälfte aller Kindergärten: “Damit ist die Obergrenze der Leistungsfähigkeit erreicht”, kündigt Prälat Friedrich Fahr, Finanzchef des Erzbistums München-Freising an.

Nach Vater Staat sind die Kirchen der größte Arbeitgeber in Deutschland, es geht um 1,2 Millionen Beschäftigte. Probleme in den Kirchenfinanzen wirken tief in die Gesellschaft.

Beträchtliche 15 bis 20 Prozent könnten die Kirchen wie Städte und Gemeinden einsparen, wenn sie sich moderner Kostenrechnung unterwerfen würden: man könnte gemeinsame Rechenzentren einrichten, Arbeitsheime verkaufen und zurückleasen oder Zeitarbeitsfirmen für Verwaltungsjobs beschäftigen.

Rettung könnte eine neue Basis für die Kirchensteuer bringen. Bisher hängt sie an der Einkommensteuer. Wer keine Einkommensteuer abliefert, dem kann die Kirche nicht helfen. Für soziale Aufgaben braucht die Kirche Geld. Und der Bundesbürger ordnet die Kirchen in erster Linie als Sozialagenturen ein.

“Wohin geht die Kirche?” fragt der Jesuit Medard Kehl in seinem gleichnamigen Buch. Das Dilemma: Der Großteil der Bürger sucht nur noch an den Wendepunkten des Lebens wie Geburt und Heirat “eine Institution für die religiösen Bedürfnisse. Aber gerade ein bloßer religiöser Dienstleistungsbetrieb wirkt für Menschen, die mehr suchen, abstoßend”, diagnostiziert Kehl, der an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt lehrt.

Die Kirche der Zukunft muss die Nöte der Menschen ohne das alte “oberlehrhafte Denken” wahrnehmen, fordert Hildesheims Bischof Josef Homeyer: “Wir leben in einer neuen Wertewelt, in der kein Mensch mehr betreut, sondern gefördert werden will”.

Längst Realität: Der Interessierte pilgert quer durch die Stadt, um eine Gemeinde seiner Richtung zu finden, ob fundamentalistisch, charismatisch oder sozial engagiert. In diesen kleinen Zellen erlebt der Gläubige die Gemeinschaft, die er sucht. Diese Tendenz beobachtet man bereits auf dem Land. Damit zieht das Ende der Nachbarschaftsgemeinde herauf.

Davor graut es noch der Mehrheit der Deutschen. 42 Prozent aber, so die FOCUS-Umfrage, würde eine Kultur ohne christliche Kirchen nicht ängstigen.

(nach Deutsch)

Wortschatz

das Plädoyer –s, -s - заключительная речь (защитника или прокурора); прения сторон;

die Diözese - епархия, приход (евангелической церкви);

brüten (über D.) - долго думать (о чём-л.); ломать голову (над чем-л.);

autark - автаркический, независимый (от импорта);

Die Unfehlbarkeit - непогрешимость; безошибочность;

pilgern - паломничать, идти на богомолье.

Aufgaben

1. Stellen Sie einen Plan zu diesem Text zusammen, formulieren Sie, welche Probleme darin behandelt werden.

2. Formulieren Sie 10 Fragen zum Text.

3. Charakterisieren Sie die moderne Sachlage “Glaube und Kirche”. Was hat zu den Problemen, die im Text hervorgehoben werden, geführt? Kann diese Lage verbessert werden?

4. Gestalten Sie auf Grundlage des Textes Gespräche zu den Themen:

Viele Deutsche schustern sich ihr Bild von Gott selbst zusammen – ohne Papst und Pastor.

Den Kirchen stehen radikale Reformen bevor.

Die Entfremdung zwischen Kirche und Gläubigen ist gewaltig.

5. Meinen Sie, es gibt ähnliche Probleme in Russland? Informieren Sie sich über die Probleme der Kirche in Russland anhand von Zeitungen und Zeitschriften. Machen Sie einen Bericht darüber.

6. Übersetzen Sie ins Deutsche:

В последнее время наблюдается тенденция к тому, что люди верят в Бога, не связывая при этом свою веру с церковью и священником. Некоторые считают, что церковь потеряла свою монополию в религиозных вопросах. Отчуждение между верующими и церковью становится все больше и больше. Церковь будущего должна учитывать нужды человека, так как мы живем в мире, где человек нуждается в помощи. Тем не менее, все больше и больше становится число людей, верящих в высшие духовные силы.

7. Gestalten Sie mit Ihren Studienkollegen Diskussionen zu den Themen:

Welche Prognose kann man für die Zukunft geben, was den Glauben und die Kirche betrifft?

Brauchen die Menschen eine Institution für ihre religiösen Bedürfnisse? Wie muss diese Institution sein?

Die Absätze des Textes LERNEN MIT JESU sind durcheinander geraten. Finden Sie die richtige Reihenfolge.


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